Am 23. Mai 1949 hat sich das deutsche Volk ein Grundgesetz gegeben. Seit 70 Jahren definieren diese Regeln, wie Menschen in meinem Heimatland zusammenleben, miteinander umgehen, was sie dürfen, was sie nicht dürfen. Es gibt nur wenige Worte, die so mächtig sind. Bis zum 23. Mai schaue ich mir in der Wortfinderei die ersten 19 Artikel, die Grundrechte, genauer an. Heute: Artikel 6 bis 10.

Mit den nächsten Artikeln der Grundrechte geht es in unser privates Umfeld. Jetzt schauen wir uns die Familie und den Umgang mit Kindern an.

Artikel 6

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Das ist ein ganz schöner Brocken. Am Anfang stehen zwei Begriffe, die eingeführt, aber nicht weiter definiert werden: Ehe und Familie. Was verstehen wir darunter? Hier geht es um juristische Begriffe, Institutionen, und nicht um beispielsweise das christliche Sakrament der Ehe. Die genaue Definition ist im Zivilrecht geregelt. Danach sind in einer Eher zwei erwachsenen Menschen füreinander verantwortlich. In einer Familie übernehmen sie gemeinsam Verantwortung für Kinder.

Seit Kurzem gilt in Deutschland die Ehe für alle, endlich haben wir eingesehen, dass die Definition Mann-Frau, wie sie bisher als Erläuterung zu Artikel 6 galt, überholt ist. Auch der Familienbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt. All das lässt die Formulierung des Grundgesetzes zu, was beeindruckend ist. Die Autoren haben also bewusst oder unbewusst darauf geachtet, dass sich die Definitionen ändern können.

Interessant finde ich, dass die Pflege und Erziehung der Kinder als natürliches Recht definiert wird, aber das GG auch regelt, dass Eltern eben nicht alles dürfen und feste Pflichten haben. Sie dürfen nicht versagen – was auch immer eine Gesellschaft unter einem Versagen versteht. –, sie dürfen Kinder nicht verwahrlosen lassen, und sie müssen auch für die nicht-ehelichen Kinder Sorge tragen. Damit das funktioniert, ist die Gemeinschaft gefragt. Sie trägt auch Verantwortungen: die Verantwortung, dafür, dass Mütter Kinder bekommen und aufziehen können, die Verantwortung, dass Eltern ihre Kinder erziehen können, die Verantwortung, Kinder zu schützen. Und generell, wer ist eigentlich eine Mutter? Wer ein Kind unter 18 hat? Wer schwanger ist? Wessen Kinder bereits aus dem Haus sind? Schaut man sich dann an, wie prikär die Situation mancher Alleinerziehender aber auch von Frauen im Rentenalter in Deutschland ist, möchte man die Gemeinschaft an ihre Pflicht erinnern.

 

Artikel 7

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.
(6) Vorschulen bleiben aufgehoben.

Der Schulartikel im GG ist bemerkenswert, weil er auf den ersten Blick zur Art des Schulwesens recht wenig sagt. Der Staat hat die Aufsichtspflicht über unsere Schulen. Alle Schulen: öffentliche, private, kirchliche – alle. Das war es. Keine Regelung zu Schulrecht, Schulpflicht oder Inhalt.

Allerdings steht in Absatz 5 dann doch noch etwas zur Gliederung, wenn auch indirekt. Denn hier ist von der privaten Volksschule die Rede. Damit sind nicht etwas private Äquivalente zu Volkshochschulen gemeint. Der Begriff meint Grundschulen. Diese müssen also bestehen, und nur dort, wo der Staat sie nicht anbieten kann, dürfen private Grundschulen errichtet werden. Damit nehmen Grundschulen eine besondere Stellung im Grundgesetz ein.

Einer der Kerne des Artikels beschäftigt sich im Speziellen mit Religionsunterricht und privaten Schulformen. Hier wird herausgearbeitet, dass Kirche und Staat getrennt sind. Der Staat hat zwar dafür Sorge zu tragen, dass Religionsunterricht stattfinden kann – so die Schule nicht bekenntnisfrei ist –, den Inhalt des Unterrichts bestimmt allerdings die Religionsgemeinschaft. Auch hier hält das Grundgesetz die Art der Religion offen. In Deutschland herrscht Religionsfreiheit. Es könnte also genauso ein jüdischer, ein muslimischer, ein buddhistischer Religionsunterricht gemeint sein, wenn es eine solche Religionsgemeinschaft gibt und sie entsprechenden Unterricht erteilen möchte.

Private Schulen müssen bestimmte Bedingungen erfüllen. Sie übernehmen eben nicht die staatlichen Bildungsaufgaben, und wenn sie es doch sollen, ist der Staat auch für sie verantwortlich. Dann muss dafür gesorgt werden, dass das Personal genauso gut ausgebildet ist wie das an öffentlichen Schulen und genauso gut bezahlt wird.

 

Artikel 8

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist recht präzise formuiert. Jeder hat das Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis mit anderen zu treffen, so lange das friedlich geschieht und diejenigen keine Waffen nutzen. Genauer geregelt werden müssen solche Treffen laut GG, sobald sie unter freiem Himmel stattfinden sollen.

Trotzdem erregen diese zwei Sätze immer wieder Aufregung. Dabei wird auch oft diskutiert, ab wieviel Personen man eigentlich versammelt ist. Wenn ich abends mit meinem Partner im Park sitze? Oder wenn die Nachbarn dazukommen? Dazu äußert sich das Grundgesetz nicht. Gemeint ist natürlich eine Versammlung zu einem gemeinsamen Zweck, im Speziellen bei einer Demonstration oder einem Streik.

 

Sobald diese Versammlungen regelmäßig und strukturiert stattfinden, wird Artikel 9 wichtig.

Artikel 9

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

Wie bei den meisten Gesetzestexten werden auch hier zuerst die wesentlichen Begriffe eingeführt, die im Weiteren durch den Gesetzgeber definiert werden sollen. Artikel 9 spricht den Deutschen das Recht zu, Vereine und Gesellschaften zu bilden, sofern der Verein oder die Gesellschaft nicht nur gegründet wird, um gegen Gesetze zu verstoßen. Als Zweck darf auch nicht dienen, gegen die Verfassung vorzugehen oder Krieg anzuzetteln.

Der Fokus dieses Grundrechtes liegt, wie Absatz 3 zeigt, auf Zusammenschlüssen, um die Arbeitsrechte und -bedingungen zu sichern. Arbeitskämpfe sind hier speziell hervorgehoben. Es wird sogar explizit betont, dass dieses Recht auch nicht in Abrede gestellt werden darf. Obwohl Deutschland als Land der Vereine gilt, habe ich den Eindruck, dass dieses Grundrecht mit Blick auf Arbeitsbedingungen nicht mehr so intensiv wahrgenommen wird. Ich bin selbst im Deutschen Journalistenverband und merke täglich, wie schwer es ist, junge Kollegen zu überzeugen, für ihre Arbeitnehmerrechte einzustehen, für gute Bezahlung zu kämpfen und sich zusammenzutun. Im Meckern sind wir groß, im Handeln nicht so sehr.

 

Artikel 10

(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
(2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.

Was ist ein Brief? Verstehen wir darunter ein Stück Papier in Umschlag, das durch die Welt getragen wird? Oder reden wir hier vielmehr von der Nachricht, die transportiert werden soll? Dass es vor 70 Jahren noch kein Internet gab, ist selbstredend. Das Grundgesetz stammt aus einer Zeit, als Post noch eine staatliche Aufgabe war und man sicherstellen wollte, dass die Privatsphäre der Bürger gewährleistet ist.

Trotzdem ist das Gesetz so vorausschauend formuliert, dass es auch unsere Mails und Nachrichten einschließt. Denn das Fernmeldegeheimnis umfasst eben nicht nur Telefonate. Doch so vorausschauend wie der Text ist, so überfordert sind wir heute mit unseren eigenen Technologien. Darf die Polizei meine Briefe lesen? Darf Google meine Mails lesen? Darf mein Nachbar an mich gerichtete Briefe lesen, wenn sie offen sind? Darf mein Lehrer einen an mich gerichteten Zettel laut vorlesen? Darüber wird gestritten.

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