Zeit für den Griff ins Bücherregal, und dabei drängt sich mir ein Buch förmlich auf: „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny. Denn dieses Buch ist nicht einfache eine Beschäftigung mit den Polarreisen John Franklins, es eröffnet einen ganz besonderen Blick auf unsere Welt. 

„Er konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der Buchstaben. Die waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte die.“

Der John Franklin, den Sten Nadolny für seinen Roman erdenkt, ist kein Held. Er ist ein 14-jähriger Junge, dessen großer Traum es ist, auf einem Schiff zur See zu fahren. Dabei gibt es nur ein Problem: John Franklin ist langsam. Er kanns sich stundenlang in die Beobachtung der Kirchturmuhr vertiefen, den großen Zeiger auf seinem Weg beobachten. Aber einem Ballspiel folgen, das kann er nicht, denn die Bewegung des Balls ist viel zu schnell für John Franklins Auge. Deshalb darf er, wenn die anderen Kindern spielen, auch nur die Leine halten.

Genau dieser Junge, für den die Schnelligkeit unserer Welt das größte Misterium ist, möchte in einen der schnellsten Berufe seiner Zeit.

Die Täuschung der Augen

„(…) Hühner waren nicht angenehm. Sie suchten dem Auge auf plumpe Art Streiche zu spielen. Regungslos standen sie da, kratzen dann, pickten, erstarrten wieder, als hätten sie nie gepickt, täuschten frech vor, sie stünden seit Minuten unverändert. Schaute er aufs Huhn, dann zur Turmuhr, dann wieder aufs Huhn, so stand es starr und warnend wie vordem, hatte aber inzwischen gepickt, gekratzt, mit dem Kopf geruckt, den Hals gewandt, die Augen glotzten anderwärts, alles Täuschung!“

Eins kann man vorwegnehmen: Franklin schafft es natürlich auf ein Schiff. Er wird sogar zum Kommandanten. Denn ganz vom historischen Vorbild kann sich Nadolny natürlich nicht entfernen. Mit 14 heuerte Franklin auf einem Schiff an, erlebte unter anderem die Schlacht vor Trafalgar. Berühmt wurde er für seine Polarexpeditionen, vor allem für seine letzte. Mit 60 brach er auf eine letzte große Fahrt auf, wollte die Nordwestpassage in der Arktis finden und verschwand mit seinen zwei Schiffen und der 129 Mann großen Besatzung im ewigen Eis.  

Der fotografische Blick des Autors

Die historische Figur ist also schon hochinteressant. Was der Historiker Nadolny aus Franklin machte allerdings, ist viel mehr. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Geschwindigkeit unserer Welt. Mit der Art, wie wir miteinander umgehen. Mit dem Geht nicht und Das kannst du nicht. Ein Gedankenspiel. Und eine Art zu erzählen, die cinematischer kaum sein könnte. Die Langsamkeit seines Protagonisten erlaubt es Nadolny, die Liebe für die Beobachtung, fürs Detail zum Kern seines Romans zu machen. Seine genaue Beobachtungsgabe macht Franklin zu einem großen Seefahrer. Seiner eigenen Langsamkeit versucht er mit Überlebenstechniken Herr zu werden. So lernt er schnelle und wichtige Antworten auf immer wiederkehrende Fragen auswendig, um sich so Zeit für Überlegungen zu schaffen. Er lernt Bewegungen blind, um sich im Notfall nicht auf seine zu langsamen Augen verlassen zu müssen. Konzentriert sich auf Momente, um aus diesen Puzzleteilen Szenen zu rekonstruieren, statt auf alles zu achten.

Dieses Spiel mit der hitzigen Geschwindigkeit, die Idee, sie in die langsamste Umgebung, die wir uns denken können – das ewige Eis – zu verlagern, hat mich gepackt. Ich habe das Buch inzwischen bestimmt achtmal gelesen und finde nach wie vor Blicke, Perspektiven, Momente, die mich vollkommen überraschen. Aus diesen wenigen Seiten kann man so viel ziehen, ein großes Stück Literatur. Und ein Buch, das seinen Ehrenplatz in meiner Bibliothek sicher hat.

 

 

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