Was ist wahr und was Traum? – Alice in Wonderland

Was ist wahr und was Traum? – Alice in Wonderland

Ein weiterer Ehrenplatz in meinem Bücherregal ist für Lewis Carroll reserviert. Kaum ein Text lebt so vom Spaß an Wortspielereien wie „Alice in Wonderland“. Und kaum ein Text inspiriert mich so sehr in meiner Arbeit.

 

Als Journalistin sollte ich mich stets an die harten Fakten halten. Jedes Wort einer Pressemitteilung gehört geprüft, jede Aussage eines Gesprächspartners hinterfragt. Das ist das Handwerkszeug, die Fähigkeit, nicht auf Floskeln und rhetorische Stilmittel hereinzufallen. Doch manchmal ist das gar nicht so leicht.

Worte, egal ob gesprochen oder geschrieben, sind Ausdrucksbilder. Ihre Anordnung, der Kontext, in dem sie geäußert werden, ihre Betonung bieten dem Wahrnehmenden Raum zur Interpretation. Und wo interpretiert wird, gibt es keine Eindeutigkeit.

Eine Spielwiese für Wortliebhaber ist für mich das Buch „Alice in Wonderland“ von Lewis Carroll, oder Charles Lutwidge Dodgson, wie der Autor mit bürgerlichem Namen hieß. Ein Mathematiker, der die Exaktheit der Zahlen und die Ungenauigkeit der Worte in einem Werk zusammenbrachte. Auf den ersten Blick eine Kindergeschichte sind die Abenteuer von Alice auf den zweiten Blick Geschichten, die aus sehr vielen Ebenen bestehen. Ein Lehrbuch für Sprache, ein Spiel mit der Wirklichkeit, eine philosophische Abhandlung darüber, wer wir sind. Ein Buch, in dem man mit jedem Blick etwas Neues entdeckt.

Wer bin ich?

„Who are you“, wird Alice gleich zu Beginn ihrer Reise von einer Raupe gefragt, dem Caterpillar. Ja, wer ist sie denn? Ein Mädchen, eine Tochter ihrer Eltern, eine Rebellin, Erfinderin. Doch das Wunderland mit seinen Regeln lässt sie die Regeln ihrer Welt hinterfragen. Erst normalgroß, dann klein, dann wieder riesig wechselt sie ständig die Größe und damit auch die Perspektive auf ihre Umgebung. Wer ich bin, hängt davon ab, welche Perspektive ich einnehme. Das gilt für Journalisten wie Autoren. Die Worte, die ich nutze, müssen im Kontext meiner Perspektive wahrgenommen werden, um zu erahnen, was ich meine.

So startet die Reise von Alice durch die Selbstfindung. Eine Traumreise, oder ist es kein Traum?, die verrückter nicht sein kann. „‚I can’t explain myself, I’m afraid, sir,‘ said Alice, ‚because I’m not myself, you see.‘ ‚I don’t see,‘ said the Caterpillar.“ Wie auch. Er sieht ja nur die Alice aus diesem einen Moment, die gerade vor ihm steht, was den Floskelnachsatz ad absurdum führt. Das Stilmittel nutzt Caroll immer wieder, lässt seine Charaktere jedes Wort auf die Goldwaage legen, um liebgewonnene Redewendungen zu enttarnen.

Lewis Carroll, Alice in WonderlandBücherregal

Foto: Mariana Friedrich, Illustrationen im Buch: Duŝan Kállay

„Then you should say what you mean“

Eines der bekanntesten Kapitel der Geschichte ist sicherlich die Teeparty des Märzhasen, des verrückten Hutmachers und des Siebenschläfers oder der Haselmaus. Mit „Why is a raven like a writing desk?“ stellt der Hutmacher ein unlösbares Rätsel, das Alice sofort zu raten beginnen möchte. Zu raten und die Antwort auf eine Frage zu finden, sind zwei verschiedene Dinge, weshalb der Märzhase nachfragt, was sie meint und sie anschließend ermahnt, sie solle doch sagen, was sie meint, statt in Rätseln zu sprechen. Zu welch wundervollen Bildern es führt, wenn man diese Redewendungen zu wörtlich nimmt, stellt die anschließende Diskussion über Zeitverschwendung unter Beweis.

Alice ermahnt die Gruppe, die Zeit nicht mit Rätseln ohne Lösung zu verschwenden und ist erstaunt über die Korrektur, dass Zeit männlich ist, also nicht sie oder im Englischen it, sondern he oder er. Und er mag es gar nicht, wenn man ihn totschlägt oder schlägt (im Englischen lautet die Redewendung ‚to beat time‘, anders als das Deutsche ‚die Zeit totschlagen‘, wenn man sich langweilt).

Lewis Carroll, Alice in WonderlandBücherregal

Foto: Mariana Friedrich, Illustrationen im Buch: Duŝan Kállay

Stell dir das Unvorstellbare vor

Das sind nur zwei Beispiele dafür, warum „Alice in Wonderland“ eine Fundgrube für Autoren und Texter ist. Caroll dichtet Kinderreime um, arrangiert seine Worte zu Bildern, lässt aus Sprichworten Figuren entstehen und hält unserer Gesellschaft eulenspielesk den Spiegel vor. Vor allem aber fordert er die Fantasie heraus. Wenn er die Königin empört ausrufen lässt: „Why, sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast“ mit dem Zusatz, man müsse das nur genügend üben, gibt er seinen Lesern eine wichtige Aufgabe: Nutze deine Fantasie, denn sie ist das stärkste Instrument, das du besitzt.

Eine schöne Übung gerade für angehende Autoren, denn gerade in diesen Unmöglichkeiten, die wir uns vorstellen, findet sich in Kombination mit dem, was wir gut kennen, der Stoff für die schönsten Geschichten.

Ein Anmerkung zu den Illustrationen: 

Ich habe für den Text nicht die klassischen und wunderschönen Zeichnungen von Sir John Tenniel verwendet, der Alice ihr Gesicht gegeben hat. Ich liebe seine Illustrationen. Seine Arbeit wird noch vielen Generationen von Kindern den Spaß an der Geschichte versüßen.

In diesem Blogbeitrag findet ihr Illustrationen von Duŝan Kállay, der Carolls Werk für den Altberliner Verlag in der Ausgabe von 1988 umgesetzt hat. Diese Version findet sich in meinem Bücherregal, denn mit ihr bin ich aufgewachsen, mit ihr habe ich die Welt von Lewis Caroll kennengelernt. Auf Pintrest finden sich noch viele weitere seiner Arbeiten.

Mehr zu Lewis Caroll: 

Natürlich kann keiner dieser Blogbeiträge zu den Ehrenplätzen im Bücherregal die Tiefe der beschriebenen Werke auch nur ankratzen. Auf der Suche nach Ideen, welche Aspekte ich von Alice vorstellen möchte, habe ich einige Lektürefundgruben entdeckt, die spannende Interpretationen, wissenschaftliche Aufarbeitungen und Gedankenspiele bieten. 

– Die British Library hat auf ihrer Webseite einen riesigen Fundus an Material zum Weiterlesen.

– Das Portal Mentalfloss hat spannende Fakten zu Lewis Caroll gesammelt, die vielleicht noch nicht jeder kennt.

– Tiefgründig und spannend arbeitet das alice-in-wonderland.net den Text auf.

 

Die Entdeckung der Langsamkeit und großer Bilder

Die Entdeckung der Langsamkeit und großer Bilder

Zeit für den Griff ins Bücherregal, und dabei drängt sich mir ein Buch förmlich auf: „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny. Denn dieses Buch ist nicht einfache eine Beschäftigung mit den Polarreisen John Franklins, es eröffnet einen ganz besonderen Blick auf unsere Welt. 

„Er konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der Buchstaben. Die waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte die.“

Der John Franklin, den Sten Nadolny für seinen Roman erdenkt, ist kein Held. Er ist ein 14-jähriger Junge, dessen großer Traum es ist, auf einem Schiff zur See zu fahren. Dabei gibt es nur ein Problem: John Franklin ist langsam. Er kanns sich stundenlang in die Beobachtung der Kirchturmuhr vertiefen, den großen Zeiger auf seinem Weg beobachten. Aber einem Ballspiel folgen, das kann er nicht, denn die Bewegung des Balls ist viel zu schnell für John Franklins Auge. Deshalb darf er, wenn die anderen Kindern spielen, auch nur die Leine halten.

Genau dieser Junge, für den die Schnelligkeit unserer Welt das größte Misterium ist, möchte in einen der schnellsten Berufe seiner Zeit.

Die Täuschung der Augen

„(…) Hühner waren nicht angenehm. Sie suchten dem Auge auf plumpe Art Streiche zu spielen. Regungslos standen sie da, kratzen dann, pickten, erstarrten wieder, als hätten sie nie gepickt, täuschten frech vor, sie stünden seit Minuten unverändert. Schaute er aufs Huhn, dann zur Turmuhr, dann wieder aufs Huhn, so stand es starr und warnend wie vordem, hatte aber inzwischen gepickt, gekratzt, mit dem Kopf geruckt, den Hals gewandt, die Augen glotzten anderwärts, alles Täuschung!“

Eins kann man vorwegnehmen: Franklin schafft es natürlich auf ein Schiff. Er wird sogar zum Kommandanten. Denn ganz vom historischen Vorbild kann sich Nadolny natürlich nicht entfernen. Mit 14 heuerte Franklin auf einem Schiff an, erlebte unter anderem die Schlacht vor Trafalgar. Berühmt wurde er für seine Polarexpeditionen, vor allem für seine letzte. Mit 60 brach er auf eine letzte große Fahrt auf, wollte die Nordwestpassage in der Arktis finden und verschwand mit seinen zwei Schiffen und der 129 Mann großen Besatzung im ewigen Eis.  

Der fotografische Blick des Autors

Die historische Figur ist also schon hochinteressant. Was der Historiker Nadolny aus Franklin machte allerdings, ist viel mehr. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Geschwindigkeit unserer Welt. Mit der Art, wie wir miteinander umgehen. Mit dem Geht nicht und Das kannst du nicht. Ein Gedankenspiel. Und eine Art zu erzählen, die cinematischer kaum sein könnte. Die Langsamkeit seines Protagonisten erlaubt es Nadolny, die Liebe für die Beobachtung, fürs Detail zum Kern seines Romans zu machen. Seine genaue Beobachtungsgabe macht Franklin zu einem großen Seefahrer. Seiner eigenen Langsamkeit versucht er mit Überlebenstechniken Herr zu werden. So lernt er schnelle und wichtige Antworten auf immer wiederkehrende Fragen auswendig, um sich so Zeit für Überlegungen zu schaffen. Er lernt Bewegungen blind, um sich im Notfall nicht auf seine zu langsamen Augen verlassen zu müssen. Konzentriert sich auf Momente, um aus diesen Puzzleteilen Szenen zu rekonstruieren, statt auf alles zu achten.

Dieses Spiel mit der hitzigen Geschwindigkeit, die Idee, sie in die langsamste Umgebung, die wir uns denken können – das ewige Eis – zu verlagern, hat mich gepackt. Ich habe das Buch inzwischen bestimmt achtmal gelesen und finde nach wie vor Blicke, Perspektiven, Momente, die mich vollkommen überraschen. Aus diesen wenigen Seiten kann man so viel ziehen, ein großes Stück Literatur. Und ein Buch, das seinen Ehrenplatz in meiner Bibliothek sicher hat.

 

 

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